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Geschichten aus dem Leben > Familienkonflikt


Ich war gerade dabei, im Supermarkt einzukaufen, als ich den Fehler machte, den Anruf meiner Schwester entgegen zu nehmen. Wie üblich sagte sie nicht einmal „Hallo“, sondern bellte einfach ins Telefon.
„Wo bist du?“
„Hallo, Sandra. Ich bin gerade unterwegs. Ich ruf dich später zurück!“
In Wahrheit hatte ich ganz einfach keine Lust mehr, wieder einmal der emotionale Mülleimer meiner Schwester zu sein. In letzter Zeit bekam ich schon Magenschmerzen, wenn ich ihren Namen nur am Display aufscheinen sah.

Als wir noch Kinder waren, war das anders gewesen.
Sandra war nur sechs Jahre älter als ich, trotzdem war sie lange Zeit meine wichtigste Bezugsperson. Unsere Kindheit war nicht einfach, unsere Mutter war alleinerziehend und litt viele Jahre unter psychischen Problemen. Damals hat das niemanden gekümmert, Psychotherapie war etwas für „Verrückte“ und ohnehin nicht finanzierbar. Trotzdem habe ich meine Mutter geliebt und vielleicht wären ihre häufig wechselnden Stimmungen noch erträglich gewesen. Aber ihr ständiges Geschimpfe über meinen Vater hielt ich irgendwann einfach nicht mehr aus. Unsere Eltern hatten sich getrennt, als Sandra und ich noch klein waren, trotzdem besuchte er uns regelmäßig. Zumindest so lange, bis er eine andere Frau fand und mit ihr eine neue Familie gründete. Damals war ich ein Teenager und danach ist der Kontakt abgebrochen. Kaum war ich achtzehn, bin ich von zu Hause geflüchtet und in die Großstadt gezogen.

Sandra hingegen ist in unserem Ort geblieben und als unsere Mutter ein paar Jahre später pflegebedürftig wurde, hat sie sich um sie gekümmert. Deshalb habe ich auch verstanden, dass Sandra oft genervt und gestresst war. Und natürlich hatte ich auch ein schlechtes Gewissen, aber Sandra wollte sich bei der Pflege unserer Mutter ohnehin nicht dreinreden lassen. Trotzdem hatten meine Schwester und ich regelmäßigen Kontakt und ich habe mich darum bemüht, für sie da zu sein. Das war nicht immer leicht, denn Sandra war schon immer jemand, der schnell in die Offensive geht. Meistens habe ich dann gekuscht und ihr ihren Willen gelassen.
Als unsere Mutter dann gestorben ist, dachte ich allerdings, die Situation würde sich entspannen. Endlich konnten wir unser eigenes Leben führen, ohne Angst haben zu müssen, dass Mama einen weiteren Krankheitsschub erleidet oder in ein neuerliches emotionales Tief rutscht. Endlich mussten wir nicht mehr in jedem Urlaub abrufbereit sein! Ab jetzt konnte ich mich frei bewegen und genau das wünschte ich mir auch für meine Schwester. Und deshalb sah ich auch nicht ein, weshalb ich ihre Launen noch länger ertragen sollte.

„Du brauchst eine Therapie!“
Sandra hatte mich an einem Sonntagmorgen angerufen und mir irgendeine verworrene Geschichte vom Freund ihrer Tochter erzählt. Dabei hatte sie die ganze Zeit ins Telefon geschimpft, ohne mich auch nur einmal zu Wort kommen zu lassen.
Natürlich war ihr egal, dass ich am Wochenende ausschlafen wollte. Vor der ersten Tasse Kaffee hatte ich daher auch keinen Nerv für Sandras neuestes Drama. 
„Begreifst du denn nicht, dass du es bist, die die Probleme überhaupt erst verursacht?“
Meine Nichte und ihr neuer Freund waren gerade mal Zwanzig und ich konnte mir gut vorstellen, dass der junge Mann nicht bereit war, Sandras Befehlston zu akzeptieren.
„Wenn du in Ruhe über alles nachdenkst, wirst du sehen, dass überhaupt nichts passiert ist!“ Ich versuchte, an Sandras Mutterinstinkt zu appellieren und Verständnis für das junge Paar zu wecken. Aber ohne Erfolg. Ehe ich mich versah, hatte sie kommentarlos aufgelegt!
„Na, dann eben nicht!“
Mittlerweile war ich schon so abgestumpft, dass ich nur noch froh war, wenn ich meinen Frieden hatte.

Mein neu gewonnener Seelenfrieden hielt allerdings nicht allzu lange an. Nach ein paar Tagen versuchte ich, noch einmal in aller Ruhe mit meiner Schwester zu reden. Das war allerdings keine gute Idee, denn bevor ich ihr noch ein Treffen vorschlagen konnte, fiel sie mir schon wieder mit einer neuerlichen Schimpftirade ins Wort.
„Sandra, wenn du nicht in Ruhe mit mir redest, werde ich unseren Kontakt abbrechen!“
Als ich den Satz ausgesprochen hatte, schlug mir das Herz bis zum Hals. Natürlich wollte ich meine Schwester auf keinen Fall verlieren! Konnte sie denn nicht begreifen, dass ich schon keinen anderen Ausweg mehr sah, als ihr mit einem Kontaktabbruch zu drohen? So konnte es doch nicht mehr weitergehen.
„Ist das jetzt der Dank für alles, was ich für dich getan habe?“
Na klar, das musste ja kommen. Natürlich war ich Sandra dankbar, dass sie als meine ältere Schwester während meiner Kindheit immer für mich da gewesen ist. Und mir war auch klar, dass sie sich nach besten Kräften um unsere Mutter gekümmert hatte. Aber das gab ihr noch lange nicht das Recht, ständig so herrisch mit mir umzugehen.
„Verstehst du denn nicht, dass du mich mit deiner unfreundlichen Art immer weiter weg von dir treibst?“
Aber den letzten Satz hörte Sandra schon nicht mehr.
Sie hatte wieder einmal aufgelegt.

Seit unserem letzten Telefonat waren ein paar Wochen vergangen und Sandra und ich hatten nichts mehr voneinander gehört. Einerseits war ich froh, andererseits vermisste ich sie auch. Ich wollte meine Schwester wiederhaben, allerdings nicht als die Person, die sie in den letzten Jahren geworden war!
Aber vielleicht würde uns eine Pause guttun.
Sandra sollte sich von den Strapazen der letzten Monate erholen, der Tod unserer Mutter hatte sie hart getroffen und ich wusste, dass sie mit den Problemen unserer Kindheit nicht so einfach Frieden schließen konnte. Irgendwann würde sie sich schon wieder beruhigen.
Ich war ohnehin gerade dabei, für einen Urlaub zu packen. Den ersten seit langer Zeit, in dem ich mich weder um die Launen meiner Schwester noch um die Krankheit unserer Mutter kümmern musste. Ich konnte es kaum noch erwarten und sah vorher noch schnell meine Geschäftspost durch.

„Sehr geehrte Frau W., leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir uns gezwungen sehen, unsere Geschäftsbeziehung mit nächstem Monatsletzten zu beenden.“
Was war das denn? Einer meiner Kunden kündigte mir den Vertrag? Ich arbeitete schon seit Jahren als selbständige Buchhalterin und hatte mich auf die Betreuung von Klein- und Mittelunternehmen spezialisiert. Das konnte doch nur ein Irrtum sein. Eilig griff ich zum Telefon. Was ich dann allerdings zu hören bekam, hätte ich mir niemals träumen lassen.
Mein Gesprächspartner erklärte mir, dass er gehört habe, dass es mit einigen meiner Klienten zu Ungereimtheiten bei der Honorarabrechnung gekommen wäre. Obwohl er mir persönlich nichts vorzuwerfen habe, habe sein Vorgesetzter darauf bestanden, in Zukunft ein anderes Büro mit der Abwicklung der Buchhaltung zu beauftragen.
„Wir sind gerade in einer schwierigen Phase, da können wir kein Risiko eingehen!“
„Kein Risiko? Welches Risiko denn?“
Vergeblich bemühte ich mich, alles aufzuklären. Ich hatte mir nichts zu Schulden kommen lassen, alle Arbeiten waren korrekt abgewickelt worden. Nie und nimmer hätte ich einem Klienten absichtlich zu viel verrechnet!
Aber da ich ohnehin nichts tun konnte, fuhr ich erst mal in Urlaub.

Als ich zwei Wochen später zurück war, hielt ich ein weiteres Kündigungsschreiben in der Hand. Was zum Teufel war hier los?
Aber wahrscheinlich hätte ich es nie erfahren, wenn meine Nichte nicht gewesen wäre.
Nicole und ich hatten immer noch Kontakt, ich sah keinen Grund, warum sie unter den Problemen zwischen mir und ihrer Mutter leiden sollte.
Diesmal war Nicole allerdings recht schweigsam, als ich sie fragte, wie es ihr ging. Und dann erzählte sie mir, dass sie mitgehört hätte, wie ihre Mutter ein paar Telefonate geführt habe. Sandra hatte einmal eine Zeitlang bei mir im Büro ausgeholfen, meine Mitarbeiterin war krank geworden und zu Monatsende war immer viel zu tun. Und scheinbar war das Gedächtnis meiner Schwester gut genug, um sich an einige meiner wichtigsten Kunden zu erinnern.
„Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder?“
Fassungslos bat ich meine Nichte, mir zu sagen, dass ich gerade etwas falsch verstanden hatte!
„Doch, ich glaube schon.“
Natürlich wusste sie nichts Genaues, aber als ich ihr gerade von meinen beruflichen Problemen erzählt hatte, hatte sie sich an ein paar Telefonate ihrer Mutter erinnert, mit denen sie zuerst nichts anzufangen wusste.
„Es tut mir so leid, Tante Barbara! Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dir schon viel früher davon erzählt.“
„Du kannst nichts dafür. Danke, dass du ehrlich zu mir warst!“
„Aber du erzählst Mama nichts davon, oder?“ Natürlich hatte meine Nichte Angst, dass ihre Mutter erfahren würde, was sie mir eben anvertraut hatte.
„Nein, natürlich nicht. Du kannst dich auf mich verlassen!“
Hatte Sandra sich wirklich als meine ehemalige Mitarbeiterin ausgegeben und so getan, als ob sie meine Kunden vor mir schützen müsste? Und wer war dumm genug, auf so eine Geschichte hereinzufallen? Andererseits konnten ein paar gezielt gestreute Gerüchte natürlich schon etwas bewirken.
Verzweifelt ging ich an diesem Abend zu Bett.
Was war bloß aus meiner Schwester geworden?

Nachdem ich ein paar Tage über alles nachgedacht hatte, ging ich in die Offensive. Ich schrieb all meine Klienten an und erklärte ihnen, dass eine mir unbekannte Person versuchen würde, mir zu schaden. Ich bot an, Einsicht in die Abrechnungen der letzten Jahre zu nehmen und alle Zahlen offen zu legen.
Letztendlich hatten die wenigsten Kunden Zeit und Lust, etwas auf unbewiesenes Gerede zu geben und so gingen keine weiteren Kündigungen bei mir ein. Ein paar Wochen lang war ich allerdings mit den Nerven am Ende. Ich sah mich schon ohne Einkommen auf der Straße stehen.
„Jetzt mal den Teufel nicht an die Wand!“
Mein Mann Herbert tröstete mich.
„Sandra ist nicht der CIA! Sie ist eine dumme Kuh, die ein paar Anrufe gemacht hat!“
Herberts Gelassenheit tat mir richtig gut! Zum ersten Mal seit langer Zeit konnte ich wieder lachen! Genau so würde es sein! Sandra hatte ganz sicher nicht all meine Klienten durchtelefoniert, so viel Einblick hatte sie nie gehabt! Das Leben würde weiter gehen und bald wäre alles vergessen!

Was ich allerdings nicht vergessen konnte, war die Gemeinheit meiner Schwester.
War sie wirklich so weit gegangen, mir absichtlich schaden zu wollen? Was hatte ich ihr getan? War das noch normal oder schon eine Art kranker Wahn? Sie konnte doch nicht wirklich so boshaft sein, meine Existenz zu gefährden? Tagelang grübelte ich über unser letztes Telefonat nach. Hatte ich durch die Drohung mit dem Kontaktabbruch eine Art narzisstischer Kränkung bei ihr ausgelöst? War das ihre Rache?

Irgendwann beruhigte ich mich und auch von Sandra hörte ich erst mal nichts mehr. Nach einiger Zeit versuchte sie dann, mich zu erreichen und rief ein paar mal an Aber ich bin nicht rangegangen. Schließlich habe ich sogar meine Telefonnummer gewechselt. Vielleicht war das nicht richtig, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ein weiteres Gespräch noch etwas bringen würde. Sandra hatte einen Vertrauensbruch begangen, der nicht mehr gut zu machen war. Auch meine Nichte war mit ihrem Freund inzwischen in eine eigene Wohnung gezogen. Sie musste mir hoch und heilig versprechen, meine neue Nummer auf keinen Fall weiter zu geben.



* Die Personen und die Handlung dieser Geschichte sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig. Spezielle Schreibweisen (Fachbegriffe, Gender-Bezeichnungen usw.) wurden in der von der Autorin übermittelten Form übernommen.

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